Perfektionitis, Teil 1

Vom Wunsch, im ersten Anlauf druckreif zu schreiben

Du sitzt vor der Tastatur, alles ist vorbereitet zum Losschreiben - aber bei jedem Gedanken, der dir in den Kopf kommt, denkst du im nächsten Moment „Das ist nicht gut genug“. Nach langem Nachdenken schreibst du tatsächlich los. Was du vor dir siehst, gefällt dir. Aber es geht quälend langsam voran. Kommt dir das bekannt vor?

Dann versuchst du vermutlich, direkt eine Endfassung zu schreiben, die du später nur minimal oder gar nicht überarbeiten musst. Ironischerweise kannst du dir diese Strategie deshalb angewöhnt haben, weil das Schreiben dir eigentlich leichtfällt. Gerade dann, wenn es zu deinen Stärken gehört, auf Anhieb die passenden Worte für einen schlüssigen Text zu finden, dann warst du in der Vergangenheit mit dieser Art zu schreiben schon erfolgreich. Je besser du darin bist, desto länger funktioniert diese Arbeitsweise auch bei steigenden Anforderungen. Es ist normal, dass die Schreibaufgaben mit der Zeit immer komplexer werden – bis diese Strategie nicht mehr funktioniert. Je später du diesen Punkt erreichst, desto größer kann der Frust darüber sein. Bei früheren Schreibaufgaben konntest du vermutlich noch alles, was dazugehört, im Kopf jonglieren, aber inzwischen ist dein Arbeitsgedächtnis von den gestiegenen Anforderungen überlastet. Das Arbeitsgedächtnis ist der Ort, an dem dein Gehirn die Informationen bereithält, die du unmittelbar zur Bearbeitung einer bestimmten Aufgabe benötigst. Die meisten Menschen können dort ungefähr sieben Elemente gleichzeitig halten. Das ist keine besonders große Zahl, wenn man bedenkt, was alles zu einem etwas komplexeren Text dazugehört. Die schlechte Nachricht ist, dass sich daran durch Training nicht viel ändern lässt. Die gute Nachricht ist, dass das gar nicht notwendig ist. Du brauchst Methoden, um dein Arbeitsgedächtnis zu entlasten. Grundsätzlich lässt sich das auf zwei Arten angehen, die ich hier getrennt voneinander vorstelle. Du kannst aber natürlich auch beides miteinander kombinieren.

Möglichkeit 1: Mehr vorab planen

Vermutlich planst du deine Texte auch jetzt schon im Voraus, allerdings größtenteils im Kopf ohne dabei etwas aufzuschreiben. Wenn das zutrifft, ist eine Möglichkeit, dass du vor der eigentlichen Textproduktion deine Planung nicht nur im Kopf durchführst, sondern schriftlich. Das kann eine einfache Stichwortsammlung sein oder auch eine visuelle Methode wie eine Mindmap oder ein Cluster. Alles, was du im Voraus aufs Papier oder auf den Bildschirm bringst, entlastet dich mental und gibt dir die Ressourcen zurück, die du zum Schreiben brauchst. So kannst du dich voll auf die Textstelle konzentrieren, die du gerade im Moment schreibst. Den ganzen Rest der Planung musst du nicht auch noch gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis haben. Um zum Schreiben zu kommen, muss dir natürlich irgendwann der Übergang vom Planen zur Textproduktion gelingen. Je mehr du vorab planst, desto weniger musst du später überarbeiten. Das Ziel sollte aber nicht sein, gar nichts mehr überarbeiten zu müssen. Ab einem gewissen Punkt solltest du „einfach“ losschreiben und eventuelle spätere Überarbeitungen in Kauf nehmen. Dieser Punkt ist spätestens dann erreicht, wenn du an deiner Planung immer weiter feilst, aber irgendwann merkst, dass du kaum noch etwas Neues hinzufügst und dich eigentlich nur noch im Kreis drehst.

Falls es dir schwerfällt, loszuschreiben, obwohl deine Planung noch nicht perfekt ist, kommt Möglichkeit 2 ins Spiel.

Möglichkeit 2: Weniger vorab planen

Es ist durchaus legitim, „einfach“ loszuschreiben, auch wenn du noch Zweifel an deiner Planung hast oder wenn du an Stelle einer Planung bisher nur eine vage Idee hast. Wo das hinführt, ergibt sich dann beim Schreiben. Auch durch den Verzicht auf eine (zu) ausführliche Planung kannst du ins Schreiben kommen, ohne dich von einem überfrachteten Arbeitsgedächtnis ausbremsen zu lassen. Falls du diese Art zu schreiben nicht gewohnt bist, kann das etwas Überwindung kosten. Aber es lohnt sich, es zu versuchen. Was du auf diese Weise schreibst, wirst du höchstwahrscheinlich noch einmal gründlich überarbeiten müssen. Genau das kannst du aber als Vorteil auffassen. Weil du den Text ohnehin überarbeiten wirst, kannst du dir zunächst mal alles erlauben. Es ist nicht wichtig, ob du Fehler machst und es ist nicht wichtig, ob deine Formulierungen besonders „schön“ sind. Was du in dieser Phase schreibst, ist im Zweifel nur für dich selbst. Du musst es niemandem zeigen. Je schneller du diesen Entwurf runterschreibst, desto weniger hängst du an diesem Text und desto leichter fällt es dir, ihn noch einmal grundlegend umzubauen. Vielleicht bleibt nach diesen Umbauten vom ursprünglichen Entwurf nicht viel übrig. Trotzdem hat diese Rohfassung in diesem Fall eine wichtige Aufgabe erfüllt, denn ohne sie wäre die Überarbeitung gar nicht möglich gewesen. Ein Erstentwurf ist wertvoll, weil er einen Ausgangspunkt für die weitere Arbeit bildet – ganz egal wie viele Fehler er enthält und wie holprig er formuliert ist. Eine besonders konsequente Form des „einfach“ Drauflosschreibens ist das Fokussierte Freewiting. Diese Methode einmal auszuprobieren kann sich in jedem Fall lohnen. Auch gerade dann, wenn diese Art zu schreiben sich für dich bisher fremd anfühlt, gibt das fokussierte Freewiting dem Ganzen einen Rahmen, der den Einstieg erleichtert.

Suche dir, was zu dir passt!

Es ist normal, wenn einer der beiden Lösungsansätze dir eher liegt als der andere. Du entscheidest selbst, was besser zu dir passt. Falls du unentschlossen bist, probiere beides aus und entscheide dann. Natürlich sollst du dich zu nichts zwingen, das überhaupt nicht deiner natürlichen Arbeitsweise entspricht. Aber auch wenn du schon eine starke Tendenz zu einem der beiden Ansätze hast, kann ich empfehlen, auch den anderen trotzdem einmal unverbindlich auszuprobieren. Vielleicht bist du von dir selbst überrascht, wenn du plötzlich Ergebnisse erzielst, die du vorher nicht für möglich gehalten hättest.

Veröffentlicht: , zuletzt aktualisiert: 06.04.2025