Perfektionitis, Teil 3

„Ich weiß nicht, wann mein Text ‚fertig‘ oder ‚gut genug‘ ist.“

Du hast eine Rohfassung deines Textes geschrieben. Die letzten Lücken sind gefüllt. In diesem Sinne, ist der Text also „komplett“. Als nächstes stehen die Überarbeitung und die Fehlerkorrektur an. Vielleicht bist du auch schon mittendrin in der Überarbeitung, hast gefühlt jeden Satz schon fünfmal unter die Lupe genommen und fast ebenso oft geändert. Trotzdem findest du immer wieder neue Stellen, an denen du etwas verbessern könntest. Die Überarbeitungen nehmen kein Ende und du fragst dich, wann der Text denn endlich „fertig“ oder „gut genug“ ist.

Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch dazu, dass du schon so weit gekommen bist! Eine komplette Rohfassung geschrieben zu haben ist eine Leistung, die du ruhig feiern darfst.

Für wen schreibst du? Führe dir möglichst genau vor Augen, wer die Leser*innen deines Texts sein werden. Sobald dir das klar ist, kannst du viel klarer beurteilen, ob eine Formulierung verständlich ist und ob der Stil angemessen ist. Abschlussarbeiten und viele andere Texte, die du als Prüfungs- oder Studienleistung schreibst, nehmen dabei eine Sonderrolle ein. Tatsächlich gelesen wird dein Text von deiner Prüferin oder deinem Prüfer. Trotzdem kann es hilfreich sein, wenn du dir während des Schreibens und Überarbeitens zusätzlich auch jemand anders als Leser*in vorstellst. Deine Prüferin oder dein Prüfer würde als Expert*in deines Forschungsbereichs deinen Text sicherlich immer noch verstehen, auch wenn du viele Details weglassen würdest. Vielleicht habt ihr auch zwischendurch schon einmal über deine Arbeit und deine Ergebnisse gesprochen, so dass auch davon vieles ohnehin schon bekannt ist. Daran solltest du dich im Hinblick auf die Verständlichkeit des Texts allerdings nicht orientieren. Allgemein bekanntes Fachwissen darfst du in der Regel voraussetzen. Jemand, der in deinem Fach ungefähr auf demselben Kenntnisstand ist wie du selbst, der aber von deiner konkreten Arbeit vorher noch nie etwas gehört hat, sollte deinen Text verstehen können. Um dieser eher abstrakten Beschreibung ein Gesicht zu geben, kannst du dir einige deiner Kommiliton*innen als Leser*innen vorstellen, wenn du möchtest. So kannst du evtl. auch unbefangener schreiben, ohne permanent daran zu denken, was deine Prüferin oder dein Prüfer dazu sagen würde.

Ändern deine Überarbeitungen tatsächlich noch etwas? Je weiter du dich in die Überarbeitung vertiefst, desto weiter gehst du dabei vermutlich ins Detail. Wenn du den Text zum x-ten Mal durchgehst, achte darauf, ob du überhaupt noch echte Änderungen vornimmst. Ab einem gewissen Punkt werden die bearbeiteten Stellen vermutlich nur noch anders, aber nicht mehr nennenswert besser. Wenn du dich zwischen zwei Formulierungen nicht entscheiden kannst, ist es vermutlich egal, welche von beiden du auswählst.

Kannst du den Text etwas „reifen“ lassen? Wenn du die Zeit dazu hast, kann es helfen, den Text eine Weile beiseitezulegen, bevor du ihn noch einmal kritisch liest. Mit ein wenig Abstand kann vieles leichter gehen. Die unvermeidbare „Betriebsblindheit“ gegenüber den eigenen Fehlern wird dadurch zumindest etwas abgeschwächt. Gleichzeitig siehst du evtl. auch die eine oder andere Stelle, die du problematisch findest, mit anderen Augen. Vielleicht hast du dich momentan in ein Problem verbissen, das später gar nicht mehr so groß aussieht, wie es momentan scheint. Für verbliebene Probleme findest du mit frischem Blick evtl. viel leichter Lösungen, mit denen du zufrieden bist. Wenn dein Text bis zu einem fixen Abgabedatum fertig sein muss, ist dieser Tipp nur in Grenzen anwendbar. Du kannst und möchtest vermutlich keine Zeit ungenutzt verstreichen lassen. Mehrere Tage oder sogar Wochen abzuwarten, ist dann in der Regel keine Option. Aber vielleicht kannst du deine Arbeiten so organisieren, dass sich ein ähnlicher Effekt einstellt. Anstatt dich „ewig“ mit einem Kapitel aufzuhalten, kannst du dich zwischenzeitlich mit anderen Kapiteln beschäftigen und später noch einmal zurückkommen. Manchmal kann es schon helfen, einen Text über Nacht „reifen“ zu lassen und am nächsten Tag daran weiterzuarbeiten.

Wie viel Zeit hast du? Je näher dein Abgabetermin kommt, desto mehr ergibt es sich möglicherweise von selbst, dass dein Perfektionismus einem gewissen Pragmatismus weicht. Du hast dann ganz einfach keine Zeit mehr dafür, um dich mit kleinsten Details aufzuhalten, sondern musst aufs große Ganze schauen, damit dein Text insgesamt fertig wird. Du musst aber nicht abwarten, bis sich dieser Effekt von selbst einstellt. Wenn du in diese Phase unbewusst hineinschlidderst, ist vermutlich nicht mehr viel Zeit übrig und dementsprechend stressig werden die letzten Tage vor der Abgabe. Stattdessen könntest du etwas früher, noch bevor der große Stress ausbricht, einmal deine Arbeit daraufhin durchsehen, welche Kapitel besonders dringend noch etwas Aufmerksamkeit benötigen. So kannst du die verbleibende Zeit gezielt für diese Teile deiner Arbeit nutzen. Damit stellst du ein einheitliches Qualitätsniveau über deine gesamte Arbeit hinweg her und vermeidest, dass am Ende manche Teile nahezu perfekt sind, während du mit anderen noch absolut unzufrieden bist. Vielleicht ist dein Text am Ende immer noch nicht perfekt – aber gravierende Schwächen sollte er dann jedenfalls nicht mehr haben.

Was sagen andere? Zu einem wichtigen Text mindestens von einer weiteren Person Feedback einzuholen, ist in jedem Fall empfehlenswert. Der Blick von außen hilft sowohl dabei, Probleme und Fehler zu finden, die du selbst hartnäckig übersiehst, als auch bei der Einordnung, ob du mit deinem eigenen Anspruch evtl. zu hart zu dir selbst bist. Falls du damit haderst, ob dein Text gut genug ist, ist dieses Feedback eine Gelegenheit zum Abgleich, welche deiner Zweifel du ruhig beiseitewischen darfst. Warte deshalb nicht zu lange damit, dir Feedback zu holen – auch und gerade dann, wenn du mit deinem Text noch nicht ganz zufrieden bist.

Veröffentlicht: , zuletzt aktualisiert: 06.04.2025